Der Übergang zwischen Wachen und Schlafen…
Es ist spät in der Nacht, fast kurz vor Tag, in einer unauffälligen Seitenstraße nicht weit vom schlaflosen Trubel der großen Avenues. Noch steht der Mond hoch am Himmel, während nur ab und zu ein erster Frühschichtler über das Pflaster huscht. Ein Taxi nähert sich. Aus dem Schatten einer Wand löst sich ein Fremder. Der Wagen stoppt. Der Mann steigt ein, und als wir ihm näher kommen, merken wir, dass seine kantigen Gesichtszüge in uns ein seltsam vertrautes Gefühl auslösen. Als der Fahrer den Gast nach seinem Ziel fragt, zögert dieser zunächst, als scheine er von der Frage überrascht zu sein.
“Well, I’ll tell you when I feel the need to stop”.
Das Auto setzt sich in Bewegung. Wir haben uns auf der Rückbank niedergelassen. Als wir über den nächtlichen Broadway gleiten, merken wir plötzlich, wie die Gedanken unseres seltsamen Mitfahrers in uns dringen, wie sie sich in unserem Gehirn festsetzen wie ein altbekanntes Lied.
„The end of night, I hum along
The Tallest Man On Earth – Hotel Bar
The driver’s turning up the dancey song, oh
How many heartaches in this car, I wonder?
(…) Will there be people in the bar or should I sleep?“
Unser Begleiter ist rastlos. Soll er zurück in sein Hotel fahren? Brennt in der Hotelbar noch Licht oder sollte er sich lieber zum Schlafen legen? Oder kann er hier bleiben im geschützten Raum und der Musik und dem sanften Brummen des Automotors lauschen? Der Mann schließt die Augen. Damit scheint sich die Entscheidung zu erübrigen, doch in seinem Kopf rotieren die Gedanken weiterhin und vermischen sich mit Zweifeln über die Zukunft und das eigene Ende.
Lieder von der Sinnsuche bis zur Selbstfindung…
Zwischendurch schaut er immer wieder auf und seine Gedanken werden klarer. Er beobachtet die Menschen auf den Gehwegen, ihr verzweifeltes Streben nach irgendeinem Sinn und ihre stetigen Bewegungen im gleichzeitigen Wunsch nach Ruhe.
„I see stars in the sky And I wish they’d return to be in me now Make up for what I lack somehow
The Tallest Man On Earth- The Running Styles of New York
When it’s all been too much“
Seine eigene Widersprüchlichkeit kommt ihm in den Sinn. Erinnerungen an einstige Beziehungen und deren Endlichkeit werden wach, im Halbschlaf werden Bilder vergangener Dialoge ins Bewusstsein gespült und vermischen sich mit momentanen Wünschen. „I love you“, flüstert der Mann leise. Später nehmen wir Bilder aus der Kindheit unseres Mitfahrers auf und wir sind fasziniert von deren Schärfe und ihrer Leichtigkeit, die kurz die Sentimentalität des stillen Gegenübers bricht.
„The naked spring, the weightless songs
The Tallest Man On Earth- What I’ve Been Kicking Around
And the memories of being young
And the breath of getting out“
Doch als der Taxifahrer seinen Gast antippt und sich nach dessen Befinden erkundigt, geht ein Ruck durch die zusammengekauerte Gestalt am Fenster. Der schüchterne Begleiter scheint aus seinen Gedanken gerissen, als er plötzlich mit der Realität konfrontiert wird. Seine Überlegungen werden lauter, als er sich seiner eigenen Fremdheit an diesem Ort, in dieser Stadt, in diesem Leben bewusst wird.
„A little drop of poison in the rain
The Tallest Man On Earth – I’m a Stranger Now
A little drop of madness in my heart
It’s nothing but will nothing grow away
Look nervously at things that come apart
If only this one held the answer
To our loneliness and all“
Zudem macht sich der Schlafmangel bemerkbar. Die Gedankenfetzen werden unschärfer, und kurz scheint es, als würde sich der Mann endgültig in das Reich der Träume verabschieden.
Wenn der Klang der Trompeten den neuen Morgen einleitet…
Doch da bricht bereits der erste Sonnenstrahl des Tages zwischen zwei Hochhäusern hervor. Ein Lächeln huscht über das Gesicht des Träumers. Wie er sehnsüchtig gen Himmel schaut, wird plötzlich deutlich, wie jung er trotz seiner Tiefsinnigkeit sein muss. Während sich die Straßen langsam füllen, richtet sich der Mitfahrer auf und beginnt zu singen. Seine kräftige, schnarrende Stimme erfüllt den Raum, als er in ein leidenschaftliches Liebeslied einsteigt. Irgendwie kommt uns die Stimme bekannt vor, doch wir sind uns nicht sicher, ob das nicht nur daran liegt, wie nah uns seine Gedanken mittlerweile sind.
„There is the light
The Tallest Man On Earth- All I Can Keep Is Now
The light is in me
Wasn’t this all
Some crazy dream“
Unser Mitreisender beendet sein Lied. „I love you“, wiederholt er, und dann zögerlicher, während er sich den Schlaf aus den Augen reibt, „It’s a fever dream“. Sonnenlicht durchflutet das Innere des Wagens. „You can stop now.“ Der Fahrer zögert nicht lange und hält das Taxi am Straßenrand. Unser Mitfahrer zahlt, lächelt uns zu und verabschiedet sich. Dabei wirkt er gelöst:
„I keep the hope I carry
The Tallest Man On Earth – I Love You. It’s a Fever Dream
Little things so I can love
Wherever I go now“
Als er sich ins Getümmel des Pendlerverkehrs stürzt, fällt unser Blick auf ein Plakat. “The Tallest Man On Earth – live in New York”. Wir blinzeln, schauen erneut auf das Bild und suchen den stillen Begleiter, der aber nicht mehr auffindbar ist. Seine Gedanken klingen jedoch in uns weiter, wie Musik in unseren Ohren. So richtig fassen können wir die eben gemachte Erfahrung nicht. „I Love You. It’s a Fever Dream…“
“I Love You. It’s A Fever Dream”, das neue Album von Kristian Matssen alias The Tallest Man On Earth ist seit dem 20. April digital erhältlich und seit Freitag, den 28. Juni auch als physischer Tonträger, zum Beispiel hier.
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